Gisèle: Die Schande gehört den Tätern


Dominique Pélicot setzte seine Frau jahrelang unter Drogen, um sie dann im Internet anderen Männern zur Vergewaltigung anzubieten. Insgesamt mindestens 83 Männer nahmen das „Angebot“ an. „Kommt nachts, ohne Parfüm oder Zigarettengeruch“, war seine Anweisung an sie. Sie sollten nicht in unmittelbarer Nähe des Hauses parken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sollten sich außerhalb des Schlafzimmers, in dem seine Frau bewusstlos lag, ausziehen. Sie durften kein Kondom tragen und wurden angewiesen, möglichst keine Geräusche zu machen und sofort zu verschwinden, sollte das Opfer sich bewegen oder den Eindruck erwecken, wach zu werden. „Es ist verrückt, dass sie nicht aufwacht“, sagt einer der Täter, während er sie vergewaltigt. Das weiß man, weil Dominique Pélicot Videos und Fotos von den Vergewaltigungen anfertigte – tausende Bilder und Filme wurden gefunden, die Gisèle zeigen, wie sie 200-mal von mindestens 83 verschiedenen Männern und ihrem Ehemann im Zeitraum von Juli 2011 bis Oktober 2020 vergewaltigt wurde.

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„Ich sah, dass sie bewusstlos war, aber ich konnte nicht aufhören“

50 der Vergewaltiger stehen nun gemeinsam mit Dominique Pélicot in Frankreich vor Gericht. Die Männer sind zwischen 25 und 73 Jahre alt und stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten, sind Lastwagenfahrer wie Unternehmer, Feuerwehrmänner wie Journalisten, Informatiker wie Krankenpfleger. Und die meisten von ihnen plädieren trotz des umfassenden Beweismaterials ihrer Taten (im Ausmaß von 20.000 Bildern) auf unschuldig. Einige behaupteten vor Gericht, sie dachten, sie würden an einem „konsensuellen Sexspiel“ teilnehmen. Wie eine bewusstlose Frau zu Sex zustimmen kann, darüber gaben sie keine Auskunft. Ihre versuchte Rechtfertigung verweist aber darauf, wie völlig normal es viele Männer finden, sich nicht um das Wohlergehen von Frauen zu scheren, wenn es um ihre eigene sexuelle Befriedigung geht.

Einer der Täter ist HIV-positiv und vergewaltigte Gisèle sechsmal. Bei fünf von ihnen wurde im Zug der Ermittlungen außerdem kinderpornografisches Material gefunden. Einer bot dem Angeklagten Dominique Pélicot im Gegenzug für die Vergewaltigung Gisèles mutmaßlich die eigene Frau zur Vergewaltigung an.

Ich habe ihn oft gesehen. Ich hatte keine Ahnung, dass er mich vergewaltigt.

Gisèle Pélicot

Einer davon war ein Nachbar der Pélicots. „Er war unser Nachbar. Er kam vorbei, um unsere Fahrräder zu reparieren. Ich habe ihn oft in der Bäckerei gesehen. Er war immer höflich. Ich hatte keine Ahnung, dass er mich vergewaltigt“, so Gisèle. Keiner von ihnen machte kehrt, als er die bewusstlose Frau sah. Einer gab, laut Bericht in der NZZ, zu Protokoll: „Ich sah, dass sie bewusstlos war, aber ich konnte nicht aufhören.“ Keiner von ihnen verständigte die Polizei, das tat auch niemand sonst, der Dominique Pélicots Anzeige im Internet sah.

Erwischt wurde Dominique Pélicot nur, weil er in einem Supermarkt versuchte, Frauen unter den Rock zu filmen – eine Form der sexuellen Gewalt, die „Upskirting“ genannt wird, und die in Frankreich erst seit 2018, in Deutschland und Österreich überhaupt erst seit 2021 einen Straftatbestand darstellt.

Glücklich verheiratet

Da Gisèle über Jahre hinweg lebensbedrohliche Dosen an Sedativa verabreicht bekam und im Anschluss vergewaltigt wurde, war sie oft müde, erschöpft, hatte Gedächtnisschwierigkeiten, wirkte auf ihr Umfeld abwesend und in ihrer Persönlichkeit verändert. Sie hatte eine Reihe von gynäkologischen und psychologischen Beschwerden, besuchte verschiedene Ärzt:innen. Ein Gynäkologe stellte dabei eine fortgeschrittene Entzündung des Gebärmutterhalses fest. Niemand brachte ihre Beschwerden mit jahrelanger Vergewaltigung und Sedierung in Verbindung. Auch Gisèle selbst nicht.

Der Spiegel berichtet davon, dass die beiden „glücklich verheiratet“ gewesen wären, inklusive gemeinsamer Ruhestandspläne im Süden. Vor Gericht sagte sie: „Ich dachte, wir wären ein vertrautes Paar.“ Im Zug der Ermittlungen wurde auf Pélicots PC auch eine Sammlung mit Nacktfotos seiner eigenen Tochter gefunden. Außerdem wurde Pélicot per DNA mit zwei weiteren Verbrechen in Zusammenhang gebracht: 1999 soll er versucht haben, eine junge Immobilienmaklerin zu sedieren, um sie zu vergewaltigen. Und auch in einem ungelösten Mordfall an einer Immobilienmaklerin wird gegen ihn ermittelt. Nachdem Gisèle erfuhr, was ihr ihr Mann – und dutzende andere Männer – jahrelang antat, wurde bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Und vier verschiedene sexuell übertragbare Krankheiten.

„Richtige“ Gewalt

Der Fall von Avignon zeigt eindrücklich, dass man männliche Gewalt an Frauen in all ihren Erscheinungsformen ernst nehmen muss, da sie selten isoliert passiert. Täter sind selten nur einmal übergriffig und selten nur in einer Form. „Weniger schlimme“ Formen sexueller Gewalt müssen selbstverständlich an und für sich bereits als sexuelle Gewalt verstanden und anerkannt werden, sie sind aber gleichzeitig nicht selten ein Hinweis darauf, dass der Täter in einem noch größeren Maß übergriffig sein oder es in Zukunft werden könnte.

Wäre Upskirting in Frankreich beispielsweise kein Delikt und würde es als Form des sexuellen Übergriffs nicht ernst genommen werden, und wäre deshalb Pélicots Handy eben nicht untersucht worden, wäre nie aufgedeckt worden, was er seiner Frau, seiner Tochter, und möglicherweise noch anderen Frauen, jahrelang antat. Ein Mann, der einer Frau im Einkaufszentrum unter den Rock filmt, zeigt damit, dass er die Grenzen von Frauen grundsätzlich für missachtbar und überschreitbar hält und dass er die betroffenen Frauen gar nicht so sehr als Menschen, sondern eher als Objekte sieht, über die er verfügen darf.

Das verweist auf eine gewisse Gefährlichkeit – nicht nur für jene Frauen, die von der Filmerei direkt betroffen sind, sondern für alle Frauen, die mit ihm zu tun haben. Wenn also das nächste Mal jemand fragt, ob man denn so „triviale“ Dinge wie einen kleinen Poklapser, eine anzügliche Bemerkung oder einen Grapscher nun tatsächlich als sexuelle Gewalt subsumieren muss, weil „richtige“ sexuelle Gewalt ja doch etwas anderes sei (das wurde mir im Übrigen bei einer meiner Lesungen im vergangenen Jahr wörtlich gesagt), dann muss man neben der Feststellung, dass es sich bei diesen Formen der Übergriffigkeit selbstverständlich um Gewalt handelt, noch eine andere Sache betonen: Wer andere Menschen, wer Frauen so behandelt, macht es nicht nur einmal und vermutlich nicht nur auf diese Weise und nicht nur in diesem Ausmaß.

Die Schande gehört den Tätern

Am bemerkenswertesten an diesem Fall ist allerdings Gisèle selbst. Sie verlangte einen öffentlichen Prozess – laut eigenen Angaben als Zeichen der Solidarität allen Frauen gegenüber, die als Opfer sexueller Gewalt keine Anerkennung finden. Durch einen öffentlichen Prozess nämlich werden auch die Namen und Gesichter der Täter öffentlich.

Gisèle zeigte sich, sie versteckte sich nicht. Sie trat vor Gericht und vor Medien mit vollem Namen und Gesicht auf. Ließ durch ihren Anwalt ausrichten, dass sie sich nicht schämt für das, was ihr angetan wurde: „Die Schande gehört den Tätern.“

Reden Sie mit mir nicht über Sexszenen. Das sind Vergewaltigungsszenen.

Gisèle Pélicot

Sich einem derartigen Prozess öffentlich zu stellen, wenngleich das von keinem Gewaltopfer jemals erwartet werden kann, ist unfassbar mutig. Dass Gisèle Pélicot die patriarchale Scham und Beschämung, die die Opfer von männlicher Gewalt im Allgemeinen und sexueller und sexualisierter Gewalt im Besonderen von außen, aber auch internalisiert in aller Regel zuteilwird, mit einer solch eindrücklichen Kraft öffentlich zurückweist, ist ein unermesslich kraftvolles Signal – auch für alle anderen, die von Gewalt betroffen sind oder waren und ihr dabei zusehen.

Dann wies sie auch noch Gericht und Journalist:innen zurecht: „Reden Sie mit mir nicht über Sexszenen. Das sind Vergewaltigungsszenen.“

Auf jede Hauswand

Wenig überraschend wurde Pélicots Bild auf Instagram von vielen jungen Frauen geteilt – versehen mit Worten der Dankbarkeit für sie, ihre Stärke und ihren Mut. Und weil diese Frauen bessere Worte fanden, als ich sie je finden könnte, werde ich zwei davon hier einfach zitieren.

Julia Pustet, bekannt als @makeboyscry, schrieb: „Frauen müssen sich für das, was Männer ihnen antun, nicht schämen. Sie müssen sich auch nicht zurückhalten oder verstecken. Sie sind bei allem Schmerz viel mehr als nur Opfer, Betroffene, Überlebende. Männer können ihnen ihre Würde nicht nehmen, sie nehmen sie nur sich selbst.“

Ida Sassenberg (@wellshesassy), und damit jene Frau, die gemeinsam mit Hannah Seidel dafür sorgte, dass Upskirting in Deutschland zu einem Straftatbestand wurde, schrieb: „Ich möchte den Namen dieser Frau auf jede Hauswand schreiben.“

Ich auch. Wir werden uns ihren Namen noch lang merken, denn er wurde zum Inbegriff von mutiger Resilienz und von der Zurückweisung einer patriarchalen Überschreibung der eigenen Geschichte zugunsten der Wahrheit.

Danke Gisèle.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

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