Kindesmissbrauch wurde noch vor 40 Jahren komplett ignoriert.


In einem populären Sexualratgeber und Nachschlagewerk aus den frühen 80er-Jahren wird der Missbrauch von Kindern keineswegs als Verbrechen, sondern als relativ unbedenklich beschrieben. Damals ein skandalöser Einzelfall?

Das Werk ist in einen orangen Einband gehüllt, auf dem Cover vorne sieht man eine blonde junge Frau, die einen lachenden jungen Mann auf die Nase küsst: „Das große Buch der Sexualität. Liebe. Partnerschaft. Familie“ wurde ab dem Jahr 1981 in großer Auflage unter die Leute gebracht. Der Bertelsmann-Verlag hatte es als Übersetzung aus dem Englischen im Programm ebenso wie die „Buchgemeinschaft Donauland, Kremayr&Scheriau “ und die „Buch- und Schallplattenfreunde“ in der Schweiz. Es sei „für jedermann, der lesen kann“, steht in der Einleitung und es gehe hier darum, die Leser:innen „mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut zu machen“.

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Nur keine Aufregung?

Der Schmöker hat es allerdings in sich. Im Kapitel „Missbrauch“ ist zu lesen, dass Kinder auf sexuelle Übergriffe durch Erwachsene mit „Verwunderung“ reagieren würden. Mehr nicht. Die schlimmsten Auswirkungen solcher Vorfälle würden nicht durch das Erlebnis selbst verursacht, sondern durch die „empörten“, „aufgeregten“, „angstvollen“ und „schockierten Reaktionen der Erwachsenen“, steht hier. Dadurch, dass Kinder vor der Pubertät eben noch kindliche Gefühle hätten, würden sie sexuelle Übergriffe relativ locker wegstecken. „Trost und Zuspruch“ durch Erwachsene würden in diesem Fall ausreichen und die Sache wäre wieder gut. Auch dürfe nicht vergessen werden, dass die Schilderungen von Kindern „über irgendwelche Ereignisse meist noch unzuverlässiger und unvollständiger sind als die von Erwachsenen“.

Generelle Rechtfertigung für Sexualstraftaten

2024 lesen sich diese Passagen wie eine General-Rechtfertigung für Sexualstraftaten. War das im Jahr 1981 wirklich der neueste Stand der Wissenschaft, wie im Buch behauptet wird? Immerhin ist es nur etwas mehr als 40 Jahre alt und nicht im 19. Jahrhundert erschienen. Es musste doch jedem klar sein, dass Kinder durch sexuellen Missbrauch schwer geschädigt werden und ein Leben lang psychisch und physisch darunter leiden. Heute zählen Sexualstraftaten gegen Kinder zu den Gewaltverbrechen, die in der Gesellschaft auf Entsetzen und Abscheu stoßen.

War das vor nur 40 Jahren völlig anders?

Franz X. Eder ist emeritierter Professor an der Uni Wien und Experte für Sexualitätsgeschichte. Die Sache sei mittlerweile gut untersucht, meint er gegenüber der WZ. Er verweist auf verschiedene aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema, die Licht in die Sache bringen sollen.

Eder empfiehlt die deutsche Historikerin und Universitätsprofessorin Sonja Levsen. Sie schreibt in einem 2021 erschienenen wissenschaftlichen Beitrag, dass ab Ende der 1960er-Jahre „Pädophilie“-Bewegungen vor allem in Westdeutschland tatsächlich Zuspruch fanden. Wie es den Kindern ging, war damals egal, es waren vielmehr gesellschaftliche Utopien, die es umzusetzen galt. In linken Kreisen war die Auffassung en vogue, dass „Triebunterdrückung“ mehr oder weniger direkt zu Faschismus führe, dass autoritäres Verhalten und der Nationalsozialismus Produkt einer sexualfeindlichen Erziehung gewesen wären. So wurde gegen die „Verneinung des Lustprinzips“ zu Felde gezogen, pädagogisches Gebot der Stunde, so die damalige Überzeugung, sei es, Kindern das Ausleben ihrer Sexualität zu ermöglichen. Untereinander, aber auch mit Erwachsenen. Ein absurdes Konzept. Auch die Ethnologie musste herhalten, wobei es als Rechtfertigung für „Pädophilie“ hieß, dass „friedliche Naturvölker“ sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern fördern würden.

Kompletter Nonsens, der vor allem in Deutschland und den Niederlanden, weniger in Ländern wie Großbritannien und Frankreich und kaum im damaligen Ostblock verbreitet wurde.

Wie groß war die Breitenwirkung?

Stellt sich noch die Frage, welche gesellschaftliche Breitenwirkung diese abstrusen Vorstellungen hierzulande hatten. Für Stefan F. Ossmann, der am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien lehrt, handelte es sich um ein „Randphänomen“, wie er zur WZ sagt. Die Historikerin Levsen schreibt, dass Zeitungen wie die „taz“, aber auch die französische „Liberation“ Ende der 70er-Jahre den Kampf um eine Absenkung des Schutzalters „phasenweise populär gemacht“ hätten. Selbst in der renommierten hochseriösen „Zeit“ ist im Jahr 1969 ein Artikel, der sogenannte „Pädophilie“ gutheißt, zu finden – verfasst vom damaligen Feuilletonchef selbst.

Aufgegriffen und möglicherweise umgesetzt wurden die „sexualrevolutionären“ Ideen in der Kinderladenbewegung. Das waren von Eltern organisierte und betriebene Einrichtungen mit gesellschaftsveränderndem Anspruch. So geführte Kinderläden gab es in den 70er-Jahren auch in Österreich, einer davon befand sich in Wien-Penzing. In Deutschland existierten fallweise von öffentlicher Hand finanzierte Stätten für Kinder und Jugendliche, die von Menschen geleitet wurden, die sich offen für die Abschaffung des Schutzalters einsetzten. Viele „Pädophilie“-Befürworter waren als eine Art Lobby im Umfeld der deutschen Grünen zu finden.

Hierzulande ist der Friedrichshof im Burgenland ein Begriff, einst als „Mühl-Kommune“ bekannt. Der als „Bürgerschreck“ auftretende Künstler Otto Mühl, der unter anderem die Kleinfamilie abschaffen wollte und gegen „Verklemmtheit“ in jeder Form zu Felde zog, wurde schließlich wegen sexuellen Handlungen mit Minderjährigen verurteilt. In den 80er-Jahren war seine Kommune auf bis zu 600 Mitglieder angewachsen.

Altbackene „Unzuchtskonzepte“

Die Verbreitung der Irrlehren vom sexuell angeblich zu befreienden Kind führt Levsen auch darauf zurück, dass die „zeitgenössischen Gegenargumente schwach waren“: Diese beriefen sich oft auf „traditionell-religiöse Unzuchtskonzepte“. Gemeint ist damit wohl die Vorstellung vom „unschuldigen Engel“ und „pädophilen Homosexuellen“, dem anonymen „Kindsverderber“ also dem, der Minderjährigen mit Zuckerln in der Tasche an der Straßenecke auflauert. Abseits davon kam Widerspruch hauptsächlich von Strafrechtler:innen und von Psychotherapeut:innen. Das Thema sexueller Missbrauch war gesellschaftlich weitgehend tabu.

Fatal war, dass der „sozialrevolutionäre“ Irrglaube, der Kindesmissbrauch einschloss, auch im Mantel der Wissenschaftlichkeit auftrat. So durfte 1972 in einer deutschen Ärztezeitung eine „Studie“ mit 30 Versuchspersonen präsentiert werden, wonach in ihrer Kindheit sexuell Missbrauchte von diesen Erfahrungen als Erwachsene ungemein profitiert hätten. Dass zahlreiche Medizinprofessoren „beratende Wissenschaftler“ des Blattes waren, erhöhte die Glaubwürdigkeit des Schwachsinns weiter. Das hatte Auswirkungen. Im Jahr 1980 wollte die deutsche SPD-Regierung den Pädophilie-Paragraphen im Strafgesetzbuch ganz streichen.

Die Alarmglocken schrillen

Ende der 80er-Jahre ist das Phänomen verschwunden, wie es zwei Jahrzehnte davor aufgetaucht ist. Sexuelle Übergriffe auf Kinder wurden jetzt öffentlich nicht mehr als wünschenswert propagiert. Dafür ist nun klar, dass jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder zehnte Bub in Deutschland Missbrauchs-Opfer ist. An vorderster Front kämpften ab den 70er-Jahren Feministinnen, die auf die tagtägliche Gewalt gegen Minderjährige, in erster Linie Mädchen, aufmerksam machten. Feministinnen waren es auch, die die ersten Opferschutzeinrichtungen gründeten und Mädchen dazu aufriefen, sich zu melden und sich zu wehren. Immer mehr Fälle wurden bekannt, nach 2010 häuften sich die Medienberichte rasant, wonach in manchen kirchlichen Einrichtungen, in Internaten und Kinderheimen in den 70ern, 80ern, ja bis in die 90er-Jahre und darüber hinaus sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung waren.

Missbrauch wurde vor 40 Jahren von fast allen politischen Parteien, Medien, der Kirche und anderen gesellschaftlichen Kräften auf heute unglaublich erscheinende Art verharmlost. Es war ein gesellschaftliches Tabu, es wurde geschwiegen. Ihren Beitrag zu dem Drama geleistet haben jene Vertreter:innen der 68er-Bewegung, die im Namen eines vermeintlichen Aufbruchs in eine bessere, antiautoritäre und selbstbestimmte Gesellschaft sexuelle Übergriffe auf Kinder verharmlost oder sogar noch ganz offen gefordert haben.


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Infos und Quellen

Genese

Dem Autor fiel vor einiger Zeit beim Stöbern auf einem Bücher-Flohmarkt in Köln das antiquarische „Große Buch der Sexualität“ in die Hände. Als er es durchblätterte, glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können.

Gesprächspartner

  • Stefan F. Ossmann lehrt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien

  • Franz X. Eder, emeritierter Professor an der Uni Wien und Experte für Sexualgeschichte, hat der WZ per Mail wichtige Hinweise gegeben

Daten und Fakten

  • Autor/Autorin von „Das große Buch der Sexualität“ sind die US-Amerikaner Mary S. Calderone und Eric W. Johnson. Über Letzteren ist heute nur wenig in Erfahrung zu bringen. Die 1998 verstorbene Calderone war Hochschulprofessorin und Medizinerin, bis 1982 war sie Präsidentin des „Sex Information and Education Council of the United States“. In dieser Funktion war sie verantwortlich für große Aufklärungskampagnen zu allen Aspekten der Sexualität in den USA. Calderone war zudem Inhaberin von insgesamt 12 Ehrendoktoraten. Tatsache ist, dass sie in dem oben genannten Buch, das Kindesmissbrauch arg verharmlost, als Autorin angeführt wird.

  • Pädophilie bezeichnet das ausschließliche oder überwiegende sexuelle Interesse von Erwachsenen an Kindern. Sie gilt als Störung der Sexualpräferenz. Ab den 1960er Jahren wurde der Begriff jedoch nicht im Sinne der Störung benutzt, sondern im Zusammenhang mit der sexuellen Befreiung des Menschen verklärt. Daher ist der Begriff in diesem Text unter Anführungszeichen gesetzt. Forschungen weisen heute darauf hin, dass es bei Kindesmissbrauch oft in erster Linie um Machtmissbrauch durch Erwachsene handelt.

  • Als „sexuelle Revolution“ bezeichnet man den Wandel der öffentlichen Sexualmoral ab den 60er-Jahren im Sinn einer Enttabuisierung sexueller Themen, einer zunehmenden Toleranz und Akzeptanz von sexuellen Bedürfnissen sowie sexuellen Orientierungen. Unter anderem wurde die „Erotisierung des Alltagslebens“ als Schlüssel zu einer freieren Gesellschaft gesehen.

  • Wilhelm Reich: Wiener Psychoanalytiker und zeitweiliger Schüler Sigmund Freuds. Er vertrat die Ansicht, dass die Hemmung sexueller Triebe zu Neurosen führt, aber auch die Ausformung eines autoritären Charakters begünstigt. Er war Marxist, Teile der 68er-Bewegung griffen seine Ideen begeistert auf. Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern hat Reich, soweit dem Autor bekannt, nicht befürwortet.

  • Sexueller Missbrauch: Die verschiedenen Varianten im StGB

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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