Zypern – ein Konflikt für die Ewigkeit?


Als Agathe im August 1974 ihren vierten Geburtstag feierte, war alles friedlich in ihrem Heimatdorf Argaki im Norden Zyperns. Dort lebten Griechen und Türken in gutem Einvernehmen, obwohl die türkische Armee bereits Ende Juli auf Zypern gelandet war. Zur Geburtstagsfeier war auch Agathes Onkel aus den USA angereist. Die Familie hatte sich versammelt, der Onkel zeigte ein Video von seinem Haus in Michigan.

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Plötzlich zerriss das Röhren tieffliegender Kampfflugzeuge die Familienidylle. „Alle gerieten in Panik“, sagt Agathe. Die Türkei hatte begonnen, ihre Invasion auszuweiten. Ihr Onkel verließ Zypern noch am selben Tag und reiste zurück in die USA: „Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.“

Wochenlange Odyssee

Anfangs wusste keiner, was tatsächlich geschah. Agathes Eltern hörten die Nachrichten im Radio und besprachen sich mit Nachbarn. „Irgendwie erfuhren wir, dass wir unser Dorf verlassen müssen“, erinnert sich Agathe. Es ging alles sehr schnell, zum Packen blieb kaum Zeit.

„Ich weinte, weil ich all diese wunderbaren Geburtstagsgeschenke bekommen hatte und sie mitnehmen wollte.“ Ihre Mutter konnte aber nur das Notwendigste mitnehmen; einige Lebensmittel, Gewand, Windeln. Einzig für Agathes Teddybär war noch Platz.

Von der Flucht blieben Agathe nur einzelne Bilder in Erinnerung: ein Rohbau, dessen Fenster sie mit Tüchern verhängten, damit sie niemand sehen konnte. Olivenbäume, unter denen sie sich vor türkischen Kampfflugzeugen versteckten. Der Abschied von ihrem Vater, der sich der zypriotischen Armee anschloss, um den Vormarsch der Türken zu stoppen. Ein Onkel, der sie in seinem Auto in die Berge fuhr.

Die Odyssee dauerte mehrere Wochen. Am Ende fand die Familie Unterkunft in Peristerona Nicosia, einem Dorf unweit von Argaki. „Dort trafen wir meinen Vater wieder“, sagt Agathe. Anfangs hatte die Familie noch Hoffnung, bald in ihr Heimatdorf zurückkehren zu können. Doch der Waffenstillstand vom 16. August 1974 besiegelte die Teilung der Insel entlang einer von der UN kontrollierten Pufferzone. Agathes Familienhaus lag nördlich der Demarkationslinie und blieb für sie für die nächsten 30 Jahre unerreichbar.

Der Strand der Geisterstadt Varosha.
Varosha wurde 1974 vom türkischen Militär besetzt und zum Sperrgebiet erklärt. Heute ist die Geisterstadt an der Küste Nordzyperns wieder eine Touristenattraktion.

© Fotocredit: Markus Schauta

Vertrieben, ermordet, vermisst

Auch der türkische Zypriot Hassan Kahvecglu weiß, was Flucht bedeutet. Als der Zypernkonflikt 1963 mit ersten Kämpfen und Vertreibungen begann, musste seine Familie ihr Heimatdorf Lefkara verlassen. Das wenige, das sie mitnehmen konnten, luden sie auf einen Esel und zogen, gemeinsam mit rund 500 anderen Dorfbewohner:innen, über die Berge bis Kofinou, ganz im Süden an der Küste, wo sie in einem Zeltlager des Roten Kreuzes unterkamen.

Im Sommer 1974, als die türkische Armee in Nordzypern einmarschierte, arbeitete Kahvecglu als Lehrer in der Hauptstadt Nikosia. Seine Eltern wurden aus Kofinou vertrieben und flohen in den türkisch besetzten Norden. Ein Onkel Kahvecglus und seine Ehefrau lebten damals in Tochni, einer Ortschaft im Süden der Insel, die zu gleichen Teilen von griechischen und türkischen Zypriot:innen bewohnt war. In der Nacht vom 14. auf den 15. August entführte eine paramilitärische Miliz 85 männliche Zyperntürken und ermordete sie anschließend. Unter den Opfern war auch sein Onkel.

„Drei Jahrzehnte lang hoffte meine Tante, dass ihr vermisster Ehemann zurückkehren werde“, erinnert sich Kahvecglu. Er versuchte, ihr klarzumachen, dass der Onkel ermordet worden war, wie so viele andere auch. Vergebens.

Bei der Öffnung eines Massengrabes ergab ein DNA-Test schließlich, dass es sich bei einer der Leichen um Kahvecglus Onkel handelte. „Man übergab meiner Tante eine kleine Schachtel mit einer paar wenigen Knochenstücken – das war alles, was von meinem Onkel übrig war.“ Doch zumindest hatte sie nun Gewissheit und konnte ihren Ehemann begraben. Laut offiziellen Zahlen gelten bis heute knapp 2.000 Menschen aus beiden Volksgruppen als vermisst.

Einseitige Narrative von Tätern und Opfern hat der heute 72-jährige Kahvecglu nie unterstützt. „Es war Krieg; wir töteten griechische Zyprioten, sie töteten uns.“ 1974 wurden rund 150.000 griechische Zypriot:innen aus dem Nordteil der Insel vertrieben. Etwa 60.000 Zyperntürk:innen mussten aus dem Süden in den Norden der Insel abwandern.

Beide Seiten blieben einander nichts schuldig, ist der Pensionist überzeugt. Als Journalist setzte er sich immer für bi-kommunale Kooperationen ein: „Ich moderierte zweisprachige Radiosendungen, publizierte Bücher und organisierte gemischte Diskussionsrunden.“ Vom Großteil der Bevölkerung sei der Konflikt nicht gewollt, so Kahvecglu. Es seien nationalistische Politiker auf beiden Seiten, die Spannungen befeuern und verhindern würden, dass die alten Wunden heilen können.

Leerstehende Gebäude in Varosha, die als Touristenattraktion von außen besichtigt werden dürfen.
Leerstehende Gebäude in Varosha locken Touristen an.

© Fotocredit: Markus Schauta

„Wieder miteinander zu leben, wird schwierig“

Agathe ist heute 54 Jahre alt. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und arbeitet in einem Medienunternehmen in Nikosia. Seit 2003 ist es für Zypriot:innen wieder möglich, die Pufferzone zu queren. In ihr Geburtshaus in Argaki, von wo sie 1974 mit ihren Eltern fliehen musste, ist sie jedoch bis heute nicht zurückgekehrt.

„Meine Mutter fuhr vor Jahren dorthin“, sagt Agathe. Das Haus war immer noch dort, aber jemand anderer wohnte darin. „Als Mutter zurückkam, weinte sie und war furchtbar aufgewühlt“, erinnert sich Agathe, die sich damals entschied, nicht hinzufahren: „Ich wollte das Haus so in Erinnerung behalten, wie ich es als Kind kannte, mit all den Möbeln, der Dekoration und den Pflanzen.“ Heute ist sich Agathe nicht mehr so sicher. Auf Facebook folgt sie einer Gruppe, in der sich ehemalige Bewohner:innen des Dorfes austauschen und alte Fotos posten. „Vielleicht fahre ich doch einmal hin“, sagt sie.

Zu den türkisch-zypriotischen Nachbar:innen aus Argaki haben ihre Eltern seit der Öffnung 2003 wieder Kontakt. „Sie kommen gelegentlich auf Besuch, dann sprechen sie über das Leben im Dorf vor der türkischen Invasion“, sagt sie. Für die ältere Generation der Zyperntürk:innen war es selbstverständlich, Griechisch zu sprechen. Das sei ein verbindendes Element gewesen: „Heute lernen die jungen Zyperntürken kein Griechisch mehr.“

Umgekehrt hätten ihre Kinder kaum Kontakt zu türkisch-zypriotischen Jugendlichen. Die Verbindungen zwischen den Volksgruppen waren früher stärker, als sie es heute sind. Das mache eine Wiedervereinigung nach 50 Jahren nicht einfacher: „Wieder miteinander zu leben, wird schwierig − nicht unmöglich, aber schwierig.“

Netzwerke knüpfen

Zwischen zwei Checkpoints, mitten in der Pufferzone, die die Hauptstadt Nikosia in zwei Hälften teilt, befindet sich ein einstöckiges Gebäude, das auf Griechisch, Türkisch und Englisch als „Haus der Kooperation“ beschriftet ist. Ziel des 2011 mit Unterstützung der UN errichteten Zentrums ist es, Brücken zwischen den geteilten Gemeinschaften zu bauen.

Hauptsächlich junge Zypriot:innen von beiden Seiten der Pufferzone treffen sich hier, um gemeinsame Projekte zu realisieren. Ebenso seien Menschen mit Migrationshintergrund willkommen, betont die Geschäftsführerin Andri Christofides: „Manche engagieren sich im Bereich Bildung, andere im Sport, wieder andere machen Kunst.“

Kooperationen über die Demarkationslinie hinweg hätten in den letzten Jahren deutlich zugenommen: „Das war noch vor zehn Jahren viel schwieriger, weil es rasch hieß, man würde mit dem Feind kooperieren.“

Die tiefen Gräben zwischen den griechischen und türkischen Zypriot:innen bestehen aber nach wie vor, was auch nicht verwunderlich sei, bedenkt man, dass die beiden Gemeinschaften von 1974 bis 2003 voneinander isoliert waren, erklärt Christofides.

Das spiegle sich auch im Geschichtsunterricht an den Schulen: „Die griechisch-zypriotische Seite betont stark die Täterrolle der Türken, während die türkische Seite wiederum die eigene Opferrolle unterstreicht“, sagt Christofides. Es wird immer nur die jeweils eigene Perspektive an die Schüler weitergegeben.

Im Sinn einer zukünftigen Wiedervereinigung müsse daher kritisches Denken vermittelt werden, das Bewusstsein, dass es mehrere Perspektiven gibt und man seine Quellen hinterfragen muss, so Christofides.

Das Hauptproblem sei aber, dass derzeit auf politischer Ebene Stillstand herrsche. „Es ist das erste Mal, dass über so lange Zeit hinweg alle offiziellen Verhandlungsprozesse über eine Wiedervereinigung ausgesetzt wurden“, sagt Christofides: „Das lässt einen mit wenig Optimismus in die Zukunft blicken.“


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Infos und Quellen

Genese

Im August 2024 waren es 50 Jahre, dass die Teilung Zyperns in einen Nord- und Südteil offiziell besiegelt wurde. Der Autor Markus Schauta nahm dies zum Anlass, um in der Hauptstadt Nikosia mit griechischen und türkischen Zypriot:innen über die Trennung der Volksgruppen und eine mögliche Wiedervereinigung zu sprechen.

Gesprächspartner:innen

Agathe, Hassan Kahvecglu und Andri Christofides haben Markus Schauta teils dramatische Einblicke in den immer noch schwelenden Zypern-Konflikt gegeben.

Daten und Fakten

  • Als Zypern 1960 von Großbritannien unabhängig wurde, nahm es in seine neue Freiheit auch ein koloniales Erbe in Gestalt ethnischer Spannungen mit. Erste Kämpfe brachen bereits 1963 aus, als rund 100.000 Zyperntürken aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Um ein Wiederaufflammen des Konflikts zu verhindern, schickte der UN-Sicherheitsrat 1964 Friedenstruppen nach Zypern.

  • Im Sommer 1974 putschte die zypriotische Nationalgarde, unterstützt von der Militärjunta in Athen, gegen Präsident Erzbischof Makarios III. Ziel der Putschisten war es, Zypern an Griechenland anzugliedern. Fünf Tage später intervenierte Ankara – neben Großbritannien und Griechenland eine der Garantiemächte der Unabhängigkeit Zyperns – und landete türkische Truppen im Norden der Insel. In wenigen Tagen gelang es der türkischen Armee, 36 Prozent Zyperns unter ihre Kontrolle zu bringen.

  • Mit dem am 16. August 1974 ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen wurde die Insel politisch geteilt: im Süden die Republik Zypern, seit 2004 Mitgliedstaat der EU, im Norden die selbsternannte Türkische Republik Nordzypern, die nur von der Türkei anerkannt wird. Die Pufferzone, die die gesamte Insel inklusive der Hauptstadt Nikosia in einen Nord- und Südteil trennt, wird bis heute von UN-Truppen überwacht und verwaltet.

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